Russlands unendliche Geschichte: Lagerhaft für einen Historiker

Hintergrund

Ein drakonisches Urteil des Obersten Gerichtshofs Kareliens macht den unbequemen Historiker Jurij Dmitriev mundtot. Es zeigt, wie gefährlich die Erforschung der Geschichte in Russland sein kann.

Bild von Jurij Dmitriev

Die Nachricht kam wie ein Schock: Der Oberste Gerichtshof der russischen Republik Karelien verurteilte in einer Berufungsverhandlung Jurij Dmitriev, Historiker und Leiter der Geschichts- und Menschenrechtsorganisation Memorial in Karelien, zu 13 Jahren Lagerhaft unter erschwerten Bedingungen. Damit erhöhte der Gerichtshof das Urteil der vorherigen Instanz um fast zehn Jahre. Für den 64-jährigen Dmitriev kommt dies, wie seine Freunde beklagen, einem „Todesurteil“ gleich – angesichts seines Alters und der harten Lebensumstände und schlechten medizinischen Versorgung in vielen Gefängnislagern Russlands. Seit mehr als drei Jahren steht Dmitriev unter diversen Anklagen. Die Paragraphen wechseln dabei, die Urteile wandeln sich, aber die Fänge der russischen Justiz lassen ihn beständig nicht los. Der unbequeme Historiker wird im Gefängnis zum Schweigen gebracht.

Massengrab im Kiefernwald

Denn Dmitriev hat jahrzehntelang den Opfern des Stalinschen Terrors nachgespürt. Mit Hartnäckigkeit und scharf formulierten Aussagen, die es auch den Wohlgesinnten nicht immer leicht mit ihm machten. Aber die passionierte Suche dieses Chronisten des GULAG nach der historischen Wahrheit führte zu wichtigen Erkenntnissen: 1997 entdeckte er das größte Massengrab Kareliens mit Opfern des Großen Terrors im Wald von Sandarmoch: Mehr als 7.000 Tote wurden hier im Erdboden verscharrt. Dmitriev machte weitere Grabstätten ausfindig und versah sie mit Gedenktafeln.

Er setzte durch, dass am 5. August, dem Jahrestag des Beginns des Großen Terrors, in Sandarmoch der Toten gedacht wird. Jahr für Jahr wuchsen die Trauerdelegationen aus Russland und Nachbarländern. In Sandarmoch waren auch viele Angehörige anderer Nationen, aus Finnland, Polen und der Ukraine, erschossen worden. Аusländische Botschafter/innen kamen nach Karelien und legten Kränze nieder – im September 2019 besuchten 20 Botschafter/innen Sandarmoch. Vermutlich wegen seiner Unbeirrbarkeit wird der Historiker nun von den Staatsorganen verfolgt. Zudem erinnerte Dmitriev schon 2014 in einer Rede in Sandarmoch nicht nur an die Vergangenheit, sondern sprach auch kritisch den Krieg in der Ostukraine an. Manchen in Karelien muss das alles missfallen haben. Zumal ein anderer Geist durch das Land zog.

Geschichte als politisches Werkzeug

Die Geschichte ist in Russland zu einem Instrument im ideologischen und geopolitischen Wettstreit erkoren worden. Sie dient als Fundgrube für alle möglichen Versatzstücke, die Russland historische Größe, vor allem den Ruhm des russischen Staates, beschwören sollen und dem Land das Gefühl einer Identität verleihen. Historiker/innen, die versuchen, die dunklen Kapitel der Geschichte zu durchdringen, stören dabei. Der Freiraum für eine diskussionsbereite Geschichtsbetrachtung, die eine Erinnerung an die Opfer bewahren und das Geschehene und seine Folgen für Gegenwart und Zukunft verstehen will, verengt sich zusehends. Archive sind verschlossen, die Namen von Staatsanwälten, die in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts an Schnellgerichten und Fließband-Todesurteilen mitwirkten, werden zum Geheimnis erklärt. Städtische Arbeiter/innen reißen Gedenktafeln für Erschießungsopfer der Stalinzeit von Gebäudewänden. Und Mitstreiter/innen von Memorial werden mit Strafen und Anklagen verfolgt.

Irrgarten der Justiz

Die Anschuldigungen gegen Dmitriev sollten alle, die sich mit der Arbeit des Historikers verbunden fühlen, von Anfang an sprachlos machen: Erstellung von Kinderpornographie. Im Jahr 2008 haben Dmitriev, der selbst im Kinderheim aufgewachsen war, und seine Frau ein dreijähriges Mädchen als Pflegekind aufgenommen. Auf seinem Computer fanden Ermittler, die vermutlich heimlich ins Haus des Historikers eingedrungen waren, Fotos des nackten Mädchens im Alter von drei, fünf und sechs Jahren. Dmitriev erklärte, er habe die Fotos gemacht, um für das Jugendamt den Gesundheitszustand des Kindes zu dokumentieren. Gutachter/innen konnten später in den Fotos nichts Pornografisches entdecken, und eine psychiatrische Untersuchung Dmitrievs fand keine Anzeichen für Störungen seiner psychosexuellen Entwicklung oder gar pädophile Neigungen. Ein Gericht sprach ihn daraufhin im April 2018 vom Anklagepunkt der „Kinderpornographie“ frei und verurteilte ihn stattdessen wegen illegalen Waffenbesitzes. Dmitriev hatte zu Hause ein historisches, funktionsuntüchtiges Jagdgewehr aufbewahrt.

Die Strafverfolgungsbehörden aber ließen nicht locker. Der Oberste Gerichtshof Kareliens hob das Urteil auf, und die Staatsanwaltschaft präsentierte eine neue Anklage wegen „gewalttätiger Handlungen sexuellen Charakters“. Im Juli 2020 sprach ein Gericht Dmitriev erneut vom Vorwurf der „Pornographie“ und der „Unzucht mit Kindern“ frei und gab ihm für „gewalttätige Handlungen“ eine Strafe, die fast um das Vierfache unter der Minimalstrafe lag – ein verbrämter Freispruch, den der Oberste Gerichtshof Kareliens am 29. September einkassierte. Die Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Obwohl Dmitrievs Anwalt erkrankt war, verlegte das Gericht den Verhandlungstermin nicht. Es bestellte stattdessen einen Pflichtverteidiger, dem drei Tage Zeit blieben, um die 19 Dokumentenbände des Strafverfahrens durchzuarbeiten. Dann erhöhte der Oberste Gerichtshof die Haftstrafe von 3,5 auf 13 Jahre.

Ende September hatten sich bereits mehr als 200 Wissenschaftler/innen, Menschenrechtsaktivist/innen, Künstler/innen, Journalist/innen und Mitglieder des Menschenrechtsrats des russischen Präsidenten in einem offenen Brief wegen der Voreingenommenheit des Obersten Gerichtshof Kareliens für die Verlegung des Verfahrens in eine andere russische Region ausgesprochen. Das Gericht wies diesen Vorschlag zurück, da er nicht von Prozessteilnehmer/innen stammte: „Diese Eingabe wurde von unbekannten Personen ausgestellt, und wir werden sie nicht kommentieren“, hieß es offiziell.

Die Jurist/innen von Memorial wollen das drakonische Urteil gegen Dmitriev anfechten und sich, wenn alle Instanzen ausgeschöpft sind, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Sie sind überzeugt, dass Dmitriev aus politischen Gründen von der Justiz verfolgt wird – als unermüdlicher Historiker, der die Opfer des sowjetischen Terrors dem Vergessen entreißt.